Als Jugendliche habe ich am liebsten Stephen-King-Romane gelesen, vorzugsweise jene seiner Bücher, die vom Erzählkonzept her in unserer wirklichen Welt verankert waren – beispielsweise »Schlaflos – Insomnia«, den Horrortrip »Es« oder in der extremen Form „The Stand“. Ein Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen stellen die gekannte Wirklichkeit in Frage, und die fantastische Erzählung beginnt.
In unserem Alltag sind solche Augenblicke natürlich rar – aber es gibt sie. Als Beispiel sehe ich da die Ereignisse am 11. September 2001 oder, für als Ereignis jüngeren Datums, den Beginn der Lockdowns vor über zwei Jahren. Für einige Stunden bis Tage hatte man das Gefühl, die Normalität löst sich auf, es gelten neue, vorher unmöglich erscheinende Paradigmen für die Wirklichkeit. Und das kann ein Anfang für eine fantastische Erzählung sein.
Diesem Prinzip folgen Fantasy-Werke wie „Die Chroniken von Narnia“ oder die Harry-Potter-Reihe. Für Harry beginnt die Auflösung der Normalität mit der Befreiung der Schlange im Zoo, eine Kaskade von Ereignissen führt ihn schließlich zu Hagrids Worten: »Harry, du bist ein Zauberer.« (Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Stein der Weisen, Carlsen: 2005)
»Kampf um Anurin« beginnt ebenfalls mit einem solchen Moment. Zur Erinnerung: Arden befindet sich spätabends noch im Uhrenladen. Eine Standuhr, die ununterbrochen schlägt, die irritierende Atmosphäre im Uhrenladen, die gruselige Stille auf der kleinen Straße – all das wäre noch irgendwie rational erklärbar. Spätestens mit Eintreffen der Lichtfrau wird Arden klar, dass hier etwas Übernatürliches am Werk ist:
»Wieder riskierte sie einen Blick auf die Sternenfrau, die Arden nun bedeutete, ihr zu folgen.
Zögernd trat sie auf der Stelle. Eine andere Stimme in ihrem Inneren meldete sich zu Wort. Sonderbare Erscheinungen oder Wesen wahrzunehmen, war nichts Neues für sie. Erst vor wenigen Wochen, mitten im Winter, hatte sie gedankenverloren eine Straße überquert und war von einem barfüßigen Mann im Hawaiihemd vor einem rückwärtsfahrenden Laster gerettet worden. Der Mann war sofort nach dieser Heldentat spurlos verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.«
Leider erschließen sich außerhalb von Film und Literatur in der Realität keine neuen fantastischen Welten, das ist weder am 11.9.01 geschehen noch im Frühjahr 2020. Allerdings ist die Sehnsucht danach bei den Menschen schon lange vorhanden, es ist ein Teil von unserer Identität. In unserer Fantasie kann dann alles existieren, Grenzen setzt uns nur unsere eigene Vorstellungskraft. Mit unserem Geist sind wir in der Lage, neue Welten zu erschaffen, die vielleicht aufregender oder bunter sind, in denen wir unter anderen Prämissen leben können, wo nine-to-five-Jobs, Schichtarbeit oder das Ausfüllen der Einkommenssteuererklärung möglicherweise keine Rolle spielen. Wo wir als Menschen gefragt sind, auf eine ursprünglichere Art, wo wir mutig sein können, mehr mit der Natur in Kontakt sind, freier sind und so weiter. Wir können eine neue Welt erschaffen, die besser zu uns passt. Ist das nicht ein aufregender Gedanke?